Verena Mörath, Uwe Lehnhardt/Berlin
Pauschalurlaub in Neukölln
Last-Minute, Richtung
Süden. Das Angebot klingt verlockend: möblierte Zweizimmerwohnung,
Küche, Bad und Balkon, im achten Stock und mit Aufzug! Wir brauchen weder
Pass noch Visum, werden weiterhin Deutsch sprechen und mit Euro bezahlen. Kein
Schlangestehen am Flugschalter, keine Gepäckkontrolle – es geht eben
alles ganz einfach, wenn man vorhat, eine Woche in der Gropiusstadt Familienurlaub
zu machen.
"Das da?", fragt unsere Tochter, ihren Kopf weit nach hinten geneigt.
Erste Lektion: "Das ist ein Hochhaus, hier werden wir wohnen." Die
Nüchternheit unserer Erklärung entspricht dem Objekt: ein Gebäude
im Siebzigerjahrestil, mit 23 Geschossen, 135 Klingelknöpfen und ebenso
vielen Briefkästen. Alles schön ordentlich und sauber, keine Graffitis,
kein Gestank. Den Eindruck eines heruntergekommenen Problemquartiers macht das
nicht. Auch die Hausgenossen, denen wir begegnen, überraschen uns: Sie
grüßen freundlich und halten uns die Türe auf.
Unser erster Spaziergang: Wir folgen der südlichen Grenze der Gropiusstadt
am Kölner Damm und an Bahnschienen entlang, die uns zum lauschigen Rudower
Wäldchen führen. Hier irgendwo fing früher die DDR an. Aus einem
Stall dringt Pferdegeruch, einige Hühner hocken herum. Ein Jogger kommt
uns entgegen, dann sind wir wieder alleine. Sind wir tatsächlich dort,
wo auf engem Raum rund 37.000 Menschen wohnen?
Am nächsten Tag fahren wir auf unseren Fahrrädern los und suchen die
Gropiusstädter. Am Lipschitzplatz gibt es das Café Thiele, zugleich
die Bäckerei am Ort, mit fünf Tischen draußen und fünf
Tischen drinnen. Hier treffen sich die Bewohner des Seniorenwohnhauses nach
ihren Einkäufen oder Ärztebesuchen. Im Fenster wirbt ein Plakat für
eine Hasen- und Hühnerschau in Rudow am kommenden Wochenende, immerhin.
Wir fragen die Bedienung, was man in der Gropiusstadt sonst noch besichtigen
könne. Die junge Frau ist sichtlich verdutzt, denkt vielleicht auch, dass
wir sie auf den Arm nehmen wollen. Schließlich schickt sie uns in die
Gropiuspassagen. Wir brechen auf, überqueren den Bat-Yam-Platz, am Gemeinschaftszentrum
mit den Kegelbahnen vorbei. Langsam lichtet sich der Beton und weicht einem
parkähnlichen Grünstreifen. Kaum jemand unterwegs, die Stimmung ist
träge. Sind wir in einem Dorf gelandet?
Im Shoppingcenter verflüchtigt sich unsere merkwürdig entrückte
Stimmung schnell, was uns hier an künstlicher Erlebniswelt geboten wird,
kennen wir nur allzu gut. Unser Kind wird von dem hektischen Betrieb bald kirre,
verlangt nach diesem und jenem. Wir flüchten und verlaufen uns ins Parkhaus,
Deck D. Durch die Lamellenfenster schauen wir auf Ausschnitte der Gropiusstadt:
Hochhäuser, Baumgipfel, Fensterreihen. Wir finden den Aufzug, dann den
Ausgang und eine Eisdiele. Die Kugel zu 70 Cent, hier beweist die Gropiusstadt
Weltniveau.
Gestärkt stehen wir kurze Zeit später vor dem hohen Halbrund des "Gropiushauses"
und fühlen uns wie in einem riesigen Amphitheater, aber das Publikum ist
unsichtbar. Wer in den 506 Wohnungen mag uns jetzt beobachten? Es dauert eine
ganze Weile, bis uns zwei Frauen begegnen. Wir bitten sie, uns zu fotografieren.
Mit dem Haus im Hintergrund. Schließlich gibt es in der Gropiusstadt nur
zwei, die nach den Plänen des Bauhausbegründers und Architekten Walter
Gropius gebaut wurden. Das andere besuchen wir im Anschluss. Eher zufällig
erfahren wir, dass es sich mit seinen 32 Stockwerken um das höchste Wohnhaus
Deutschlands handelt. "Gute Aussichten und ideales Wohnen" verspricht
ein Schild am Hauseingang. Wir würden das gerne glauben, haben aber genug
vom Sightseeing. Wir sind froh, wieder in unserer Wohnung zu sein. Sie ist unser
Ruhepol, unser Aussichtsturm, abends kommen Freunde zum Essen und Quatschen,
oder wir machen mit dem kleinen Schwarzweißfernseher auf Puschenkino.
"Gute Aussichten und ideales Wohnen" eben. Für eine Weile jedenfalls.
Am letzten Tag drehen wir eine Abschiedsrunde und fahren Richtung Buckow. "Das
da?", fragt die Tochter wieder einmal. Nun sind wir selbst erstaunt und
antworten: "Eine Windmühle." Sie entpuppt sich als die älteste
Windmühle Berlins, heute eine Gaststätte. Ansichtspostkarten davon
gibt es nicht. Schade, ein paar Urlaubsgrüße hätten wir dann
doch gerne verschickt.
(Gekürzte Fassung des gleichnamigen Artikels, der am 20./21.09.2002 in der
taz – Reisewiese erschien.)
Verena Mörath