Birgit A. Schhmacher/Berlin
Zimmer mit Aussicht
»Hotels sind monumente von epochen, die an den ornamenten ihrer architektur erkennbar werden und sich an den bröckelnden fassaden verraten. Sie sind die fluchtpunkte jeden zeitalters und ihre zufälligen mittelpunkte zugleich; spuren jedoch läßt allein das zurück, was man pauschal als die geschichte bezeichnet. Man geht die fluchten der gänge ab und ist da, ohne wirklich hier oder jemals angelangt zu sein, das paradoxon der passage, eines lebens, das nach spuren sucht und seine eigenen an den dingen hinterlassen will, während das zimmermädchen am nächsten tag jeden fingerabdruck entfernt hat und die laken flach gestreift. Die zimmer eines hotels bleiben aber trotz der genrebilder im gang leer. Man hört die geräusche durch die wände, das atmen und einzelne worte, doch auch das wirft einen schließlich nur auf sich selbst zurück; zwischen tisch, bett und stuhl reduziert sich das leben auf die anzahl der schritte dazwischen.«
Raoul Schrott, aus dem Gedichtband »Hotels«, zitiert im Katalog zur Fotoausstellung »Hotel Mittelmeer« im Haus der Kulturen der Welt, Berlin 1995/1996
Ein Jahr lang war ich Zimmermädchen in der Gropiusstadt.
Ich habe die Künstlerwohnung im Sollmannweg in Ordnung gehalten, im achten
Stock gelegen, mit einer schönen Aussicht aus nicht ganz schwindelerregender
Höhe. Unmittelbar nach jedem Aufenthalt eines Gastes bin ich in die Gropiusstadt
gefahren, bepackt mit der zuvor zu Hause gewaschenen Bettwäsche, den Handtüchern,
und den Dingen, die nachgekauft werden mussten: Putzlappen, Scheuermilch, Seife,
Toilettenpapier.
Ich habe diesen Service für die Künstler gerne übernommen. Es
hat mir sogar Spaß gemacht. »Frau Schumacher gehört zu den
bemerkenswerten Personen, die sich stets mit größtem Engagement sowohl
neuen Aufgaben als auch Routinetätigkeiten widmen«, wurde mir vor
einigen Jahren von einem Vorgesetzten im Arbeitszeugnis attestiert. Ich fand
diese Formulierung damals unmöglich, liest sie sich doch, als ob ich die
Hälfte der Zeit mit Kaffeekochen zugebracht hätte. Beim Bettenmachen
in der Gropiusstadt kam der Satz mir gelegentlich wieder ins Gedächtnis,
und ich begann, mich mit ihm anzufreunden. Denn ich bewertete meinen »Dienst
am Gast« keineswegs als untergeordnet oder anspruchslos im Vergleich zu
den anderen Aufgaben, die es für das Pilotprojekt gemeinsam mit Uwe zu
erfüllen galt. Im Gegenteil: Obwohl ich mich nicht als einfach gestrickten
Charakter wahrnehme oder als einen Menschen, der dem Leben am liebsten keine
Herausforderungen abverlangen möchte, empfand ich ein jedes Mal tiefe Zufriedenheit
beim Anblick der Wohnung, wenn ich sie wieder verließ. Ein Gefühl
eben wie nach getaner Arbeit, substantieller Arbeit, die eigentlich kaum jemand
gerne erledigt, geschweige denn darüber schreibt. Einen Rollenkonflikt
hatte ich nie. Die eine (leitende) und die andere (putzende) Rolle waren zwei
völlig verschiedene, ich bewegte mich authentisch in zwei Welten, und ich
kam nie in die Versuchung, diese Welten zu vermischen. Weder in meinem eigenen
Verständnis noch in der Kommunikation mit den Künstlern. Ein Beispiel.
Gäste, die unliebsam mit der Wohnung umgegangen waren oder heilloses Chaos
hinterlassen hatten – dies kam allerdings sehr selten vor – »bestrafte«
ich mit Unfreundlichkeit, wenn ich ihnen wieder begegnete. Wie ein Zimmermädchen,
das kein Trinkgeld bekommt, habe ich meiner Enttäuschung adäquat Ausdruck
verliehen, den Gast aber niemals zur Rede gestellt. Dies betrachtete ich in
der Welt, in der ich Zimmermädchen war, nicht als meine Aufgabe. Ich habe
versucht, mich in jeder Rolle konform zu verhalten. »Going native«
bezeichnen die Ethnologen das Phänomen des Forschers, der sich eine bestimmte
Rollenzugehörigkeit schlichtweg einverleibt und diese Rolle in der fremden
Kultur lebt, um sie beschreiben zu können. Ein Zimmermädchen hat eben
die Gäste nicht zu kritisieren, sondern geht mit ihren Beschwerden zum
»Chef«, und da ich nicht zu mir selber gehen konnte, ging ich damit
zu Uwe. Der entschied dann je nach dem Grad des Beschwerdegrundes ob es angemessen
war, den Gast damit zu konfrontieren oder die ganze Geschichte wegen Geringfügigkeit
zu den Akten zu legen.
Die konsequente
Umsetzung der Idee, es den Gästen im Sollmannweg so angenehm wie in einem
gut geführten Hotel zu machen, zählt für mich zu den elementaren
Bestandteilen des Pilotprojektes. Doch um nicht immer nur die benutzte Wäsche
wieder mit nach Hause zu nehmen, habe ich Fotos gemacht, die einen bestimmten
Aspekt meiner Arbeit dokumentieren. Immer, wenn ich die Wohnung betrat, machte
ich zu allererst eine Reihe von Aufnahmen, noch bevor ich irgend etwas anrührte
und mit dem Saubermachen begann. Ich ging dabei nach einem mir selbst auferlegten
Plan vor, der beinhaltete, jedes Mal dieselben Ausschnitte zu fotografieren,
zum Beispiel »Badewanne-Ecke-rechts«, »Schreibtisch-linke
Hälfte«, »Wohnzimmer-Totale zum Fenster«, »Vorratsschrank-geöffnet«,
und so weiter. Danach fotografierte ich individuelle Spuren des Gastes, etwa
wie die benutzte Wäsche auf dem Boden zusammengelegt war, zurückgelassene
Zeitschriften, oder wie der Fernseher seinen Platz gewechselt hatte. Im Schnitt
machte ich jedes mal etwa vierzig, fünfundvierzig Bilder. Siebzehn Gästen,
die im Laufe des Jahres in der Wohnung wohnten, verdanke ich nun ein merkwürdiges
Archiv von mehr als 700 Fotografien, die auf den ersten Blick ziemlich langweilig
aussehen. Aber: Ordnet man die Fotos in einem zwei-achsigen Koordinatensystem,
bei dem auf der einen Achse die Namen der Gäste (oder entsprechende Codierungen)
verzeichnet sind, auf der zweiten Achse die verschiedenen, immer gleichen Ansichten,
formiert sich eine detailgenaue Legende über den Ausgangs- und Angelpunkt
des Pilotprojektes: die Wohnung. Im Fadenkreuz der Geschichte ihrer Bewohner
lassen sich plötzlich Spuren erkennen, die Rückschlüsse auf bestimmte
Verhaltensmuster, Ernährungsgewohnheiten oder Arbeitsweisen zulassen. Mitunter
sind auch gar keine Veränderungen wahrnehmbar, doch auch das läßt
sich deuten.
Womöglich erübrigt es sich zu sagen, dass jeder Gast bei seiner Ankunft
in der Wohnung dieselbe Situation vorfand, selbst die beiden Kissen auf dem
Sofa habe ich immer gleich plaziert, die frischen Handtücher zusammen mit
einer Papierblume hübsch auf dem Bett angerichtet, auf den Nachttisch ein
süßes Betthupferl gelegt. Eben wie in einem Hotelzimmer, in dem sich
der Gast willkommen fühlen soll. Weil Hotels nun einmal zu meinen Leidenschaften
zählen: die kleinen billigen Absteigen am Ende der Welt nicht weniger als
die feudalen Paläste des Orients, und auch Bettenburgen am tunesischen
Badestrand konnten sehr wohl meinen Horizont um skurrile Erfahrungen erweitern
und Einblicke in die eigene Befindlichkeit gewähren. Das Leben im Hotelzimmer,
wie Raoul Schrott treffend schreibt, wirft einen eben schließlich auf
sich selbst zurück. »In diesem Sinn sind Hotels die eigentlichen
Tempel unseres Jahrhunderts« ist die Erkenntnis, die er daraus schöpft.
Die Erfahrungen, die dieser Erkenntnis zugrunde liegen, habe auch ich gemacht,
immer, wenn ich in einem Hotel wohnte.
Was ich also mit
einem Lottogewinn tun würde? Ein schönes, großes Haus im Süden
kaufen, mit Palmengarten und Meerblick. Dann würde ich daraus ein Hotel
machen, in dem die Zimmermädchen viel Freude an ihrer Arbeit hätten,
nicht nur, weil sie dafür gut bezahlt würden. Hin und wieder würde
ich auch wieder Zimmermädchen sein, doch meistens mit meinen Gästen
im Garten unter einem Sonnenschirm zu Mittag essen. Die Gäste wären
vielleicht in der Mehrzahl Künstler.
Vorerst aber übe ich weiter im »Zimmer mit Aussicht«, Hotel
Gropiusstadt.