Minah Son /Berlin

Für das Projekt „Liebe Nachbarn...“ habe ich im April 2002 zum ersten Mal das Wohngebiet Gropiusstadt besucht, um Fotos zu machen. Mein erstes Gefühl war das von Kälte, irgendwie fühlte ich mich einsam und ratlos, die Gegend war zu ruhig, als ob ich auf einer Insel wäre. Vor dem Projekt bin ich zwei oder dreimal hingegangen, aber das Gefühl blieb. Am 30. Mai bin ich in die Wohnung für das Pilotprojekt gezogen, die mir einen Monat lang zur Verfügung stehen sollte. In der Nacht war die Gropiusstadt so ruhig, als ob alle tot wären oder niemand hier wohnen würde ...
Die Wohnung befindet sich im Sollmannweg. Bis zur Hugo-Heimann-Straße braucht man zu Fuß ca. 5 Minuten.

Mein Projekt habe ich den Nachbarn durch Briefe angekündigt. Obwohl ich die Briefe schon am 29. Mai in die Briefkästen der Hugo-Heimann-Str. 16 und 18 gesteckt und an den Hauseingängen aufgehängt habe, sind die Regale am ersten und vierten Tag des Projektes verschwunden. Zwar habe ich Teile der Regale durch die Hilfe eines Nachbarn in der Mülltonne gefunden, aber später sind sie wieder verschwunden, weshalb das Projekt bis zum 7. Juni nicht richtig laufen konnte. Danach wurden die Regale neu gekauft.

Während dieser Zeit habe ich den Nachbarn der Hugo-Heimann-Str. 16 und 18 erzählt, was passiert ist, was für ein Projekt ich mache, woher ich komme ... Dadurch konnte ich viele Nachbarn kennenlernen, und sie sind neugierig auf meine Arbeit geworden. Nachdem die neuen Regale im Müllhaus aufgestellt wurden (zur Sicherheit wurden sie am Gitter des Müllhauses angeschlossen), hat sich an diesem Ort viel ereignet. Täglich waren neue Gegenstände zu finden, die von den Nachbarn abgegeben wurden. Ich wusste auch, dass sowohl die Nachbarn der Hugo-Heimann-Straße als auch die Einwohner vom Sollmannweg und von der Lipschitzallee mich, eine Asiatin, beobachteten, wie ich jeden Tag zur selben Zeit mit großer Kameratasche und Stativ in die Hugo-Heimann-Straße ging. Und ich fand langsam, dass die Gropiusstadt eine gar nicht so schlimme Stimmung hat, aber irgendwie menschlich einsam wirkt.

Mitte Juni habe ich im Wohnhaus Sollmannweg zufällig ein Paar im Aufzug kennengelernt, als die Fußball-Weltmeisterschaft in Korea und Japan stattfand. Sie waren neugierig auf meine Digitalkamera. Ich habe gern ein paar Fotos von ihnen gemacht und ihnen gleich geschenkt. Wir haben uns dann ungefähr 2 Stunden lang über Fußball unterhalten, über meine Heimat Korea, über den Euro usw. Sie waren auch neugierig darauf, was ich mache, weil ich gesagt habe, dass ich Künstlerin bin ... Sie sagten, sie würden gerade eine Lampe auf meinem Kopf sehen. Sie wollten mich irgendwie außerirdisch, aber interessant und nett finden. Ich habe viel erzählt, was ich über Kunst weiß, auch über mein Projekt. Sie fragten, ob ich die Kunstwerke im Reichstag gesehen habe. „Ja, ich war schon über sieben Mal da. Wenn Besucher aus Korea kommen, begleite ich sie dahin“, sagte ich. Und habe über die Kunstwerke, besonders das Werk „Der Bevölkerung“ von Hanns Hacke geredet, das ich persönlich sehr gut finde. Ich habe mich dafür begeistert, wie Hanns Hacke in dieser Arbeit mit den Bedeutungsebenen, mit Genitiv und Dativ des Titels spielt, über die Position im Reichstag usw. Ich habe versucht, die Kraft der Kunst zu betonen. Sie haben mir zugehört und gelacht. Und sie sagten: „Wir putzen beide im Reichstag, und die Kunstwerke stören bei der Arbeit. Warum die Kunst dort bleiben soll, wieso sie immer geputzt werden muss, obwohl niemand sie richtig sieht. Wir haben keine Ahnung ... diese große Schrift, der erigierte Penis usw. stören uns nur bei der Arbeit.“ Ich habe mich geschämt und wahrgenommen, wie viel die Kunst vom normalen Leben entfernt ist.

Am 16. Juni habe ich einen Opa in Müllhaus der Hugo-Heimann Str. 6 kennengelernt, als ich um 9 Uhr Fotos für die Dokumentation machen wollte. Er brachte gerade seinen Müll weg. In meinem Regal lagen alte Stromkabel und Holzbretter. Er sagte, dass er zu Hause viele nützliche alte Dinge hat. Er war 89 Jahre alt und wohnte allein. Seine Wohnung sollte bald ausgeräumt werden, weil er nicht mehr allein den ganzen Haushalt machen kann und in ein Altersheim gehen sollte. Seine Frau - er nannte sie „Mama“ - ist schon lange Zeit im Krankenhaus, sie ist 90 Jahre alt. Seine einzige Tochter ist schon gestorben, wegen Gehirnkrebs. Der Mann hat mich in die Wohnung eingeladen, in der er über 20 Jahre gelebt hat, und ich habe ihn dort fotografiert. Man kann es fühlen, wie lange hier gelebt wurde, vielleicht nicht nur das Leben eines Menschen, sondern einer Familie. Mich hat das sehr berührt, irgendwie bin ich traurig geworden. Er hat mir erlaubt, alles zu nehmen, was ich brauchen könnte, und ungefähr nach einer Stunde ist er mit der Hilfe eines Nachbarn und einem kleinen Koffer ins Altersheim gefahren. Später habe ich ihm die Fotos dorthin geschickt.

Gropiusstadt liegt im Süd-Osten von Berlin. Da wohnen viele alte Leute, Ausländer aus der Türkei, aus Asien und Afrika, ähnlich wie im Wedding. Ich habe oft Menschen getroffen, die am Tag einer schweren Arbeit nachgehen.
Aber man kann auch oft sehen, dass alte Leute vom Balkon der Wohnhäuser lange Zeit nach draußen gucken. Sie haben nichts zu tun, keine Kraft mehr, keine Familie....

Das Projekt ist insgesamt gut gelaufen.
Die gesammelten Dinge waren meistens nutzbar, aber manchmal wurde auch Müll, also kaputte Dinge in die Regale gelegt.
Mit der Zeit habe ich mich auch an die Stimmung in der Gropiusstadt gewöhnt.
Aber: Obwohl das ganze Wohngebiet von vielen Bäumen umgeben ist, die Nachbarn meistens nett sind und das Projekt gut gelaufen ist, blieb für mich immer ein Gefühl von Einsamkeit in Gropiusstadt.

Am Ende des Projektes, am Sonntag, dem 30. Juni, als das Fußball-Finale Brasilien gegen Deutschland stattfand, habe ich vor dem U-Bahnhof Lipschitzallee neben dem Flohmarkt die gesammelten Dinge verschenkt. Sobald die Sachen ausgepackt wurden, war fast alles verschwunden. Es muss wohl sein, dass einer sehr viel mitgenommen hat oder die Händler des Flohmarktes etwas genommen haben, um es wieder zu verkaufen. Obwohl es so sein könnte, finde ich es gut, dass die Dinge weiter benutzt werden. Nach dem Flohmarkt habe ich die Reste, die völlig kaputt und unbrauchbar waren, in die gelbe Mülltonne geworfen.