Petra Spielhagen/Berlin

Tausche Bilder gegen Geschichten
Eine Aktion

Durch eine Einladung vom Pilotprojekt bin ich nach Gropiusstadt gekommen. Gropiusstadt ist eine Planstadt am südlichen Rand Berlins. Sie geht direkt in eine schöne Landschaft über, und ihre „besten Zeiten“ sind vorbei. Ich bin fremd und kenne das Leben hier nicht.


Ich fotografiere die Stadt in der Nacht. Licht ändert die Erscheinung eines Ortes und öffnet Einstiege in Imaginationen. Ich bin allein auf einer langsamen Suche. Kein Mensch ist zu sehen.
Tags gehe ich auf den Markt. Dort treffe ich die Bewohner: Sie wählen ein Foto aus, das ihnen gefällt. Sie bekommen das Foto von mir im Tausch gegen eine Geschichte über den Ort auf dem Foto. Jeder kann teilnehmen, er braucht nur eine Geschichte.
Die Fotos der gefundenen Orte zeigen Situationen, die für einen Moment die Qualität eines Modells, einer Bühne oder eines Filmsets annehmen. Die Geschichten der Bewohner sprechen von Erlebnissen, von dem, was in der Gropiusstadt passiert. Die Sicht der angereisten Künstlerin trifft auf die Sicht von denen, die dort leben.
Die Marktbesucher interessieren sich für die Fotos. Sie wundern sich und freuen sich über die Bilder. Sie versuchen, die Orte auf den Fotos zu erkennen, gucken, ob „ihr Haus“ drauf ist.
Gropiusstadt „war früher besser“ und wird häufig negativ identifiziert. „Was hier passiert? Das kann ich ihnen sagen, mir sind 3000 Euro gestohlen worden.“ Fast jedes Hochhaus wurde als „das Haus“ bezeichnet, von dem sich „immer Leute runterstürzen“.


Geschichten von Bewohnern der Gropiusstadt, Oktober 2005 (nacherzählt von Petra Spielhagen)
1. Geschichte
Eine Dame geht oft mit ihrem Hund im Reiterwäldchen am ehemaligen Mauerstreifen spazieren. Seit einiger Zeit ärgert sie sich immer über diesen Mann, der mit einer großen Tüte im Wald verschwindet und ohne sie wieder herauskommt. Sie würde da gerne mal hinterhergehen und nachsehen, was der da macht. Aber heute hat es ihr nicht so gepasst.

 

2. Geschichte

Frau X wohnte 25 Jahre im Theodor Loos Weg in einem Haus mit acht Stockwerken. Ganz oben lebte eine nette Familie mit zwei Kindern. Die Frau war aus Thailand. Eines Abends kam der Mann vom Fußball nicht mehr ganz nüchtern nach Hause. Er ging auf den Balkon und hat sich auf die Brüstung gesetzt. Seine Frau hat noch versucht, ihn festzuhalten und hat es aber nicht geschafft; sie war zu klein und zierlich. Er fiel herunter, direkt unter Frau X’s Balkon. Sie hörten den Knall. Sie hat heute noch Alpträume davon. Direkt unter ihrem Balkon waren Büsche an einer Böschung, da ist er raufgefallen. Der Hausmeister, der unten wohnte, rannte raus, brachte ihm eine Decke und rief: “Er lebt!“ Daraufhin haben sie gleich die Feuerwehr gerufen. Der Mann hat es mit ’nem Milzriss überlebt. Er war ein sportlicher Typ. Heute sieht sie ihn noch manchmal auf dem Fahrrad durch die Gropiusstadt fahren.

3. Geschichte

Eine Frau, Krankenschwester, ich schätze sie auf Mitte-Ende 40, erzählt: Sie hat ihre Wohnung so ausgesucht, dass sie an der Mauer liegt. So konnte sie über die Felder in die Richtung gucken, wo ihre Lieben wohnten, und konnte ihnen so doch irgendwie nahe sein. Sie sei Mauerkind, am 12. August kam sie mit ihrer Mutter nach Berlin. In der Nacht wurde die Mauer gebaut. Am 13. konnten sie nicht mehr zurück. Da war sie vier. Ihre großen Geschwister, Opa und Oma sind dort geblieben. Dann ist sie mit neun in das erste GEHAG-Haus gezogen. Das war das erste Haus der Gropiusstadt. Danach wurden die anderen Häuser gebaut. Als sie Kinder kriegte, gab es zwei Gründe hierher zurück zu kommen: nahe an der Mauer wohnen und die Kinder so selbständig wie möglich erziehen. Vorher wohnten sie am Wittenbergplatz. Dort waren so viele Demos, wo Steine geflogen sind. Hier konnten die Kinder früh alleine runter und zum Spielplatz gehen, ohne dass sie an einem Auto vorbei mussten. Damals fand sie das sehr kindgerecht. Heute, mit ihren Enkelkindern, würde sie es nicht mehr machen. Einmal kamen die älteren Kinder ohne den Jüngsten zurück. Sie und ihr Mann betrieben ein Restaurant, mussten ausschlafen und dachten, dass der kleine mit den großen mitgegangen sei. Sie sind auf den Balkon um zu gucken, ob er auf dem Spielplatz sei und sahen, wie er mit einer fremden Frau zurückkam. Sie half ihm tragen, denn es waren so viele Tüten, dass er sie nicht alleine tragen konnte. Er hatte zu Hause 100 Mark aus dem Portemonnaie genommen und war für die ganze Familie einkaufen gegangen. Er wollte zeigen, dass er alleine einkaufen konnte, und hatte alles mitgebracht, nicht nur Süßigkeiten, sondern alle „Rundherum“-Lebensmittel“: Kaffee, Zeitung, Obst, Butter. Und er hatte jemanden um Hilfe gebeten. Er war ca. drei Jahre alt.

4. Geschichte

Eine Frau kam mit ihrer Tochter (ca. 12 Jahre) vorbei. Sie erzählte, die Leute, die bei ihnen gegenüber wohnen, sind Franzosen, die Eltern sind taubstumm und haben vier Kinder. Im Kindergarten haben die Kinder sprechen gelernt. Zuerst haben sie die Taubstummensprache gelernt. (Die sind wirklich witzig.) Im Sommer haben sie einen aufblasbaren Swimmingpool auf dem kleinen Balkon aufgestellt, und die ganze Familie hat darin gebadet. Das konnten sie von ihrem Balkon im achtzehnten Stockwerk sehen. Die Weihnachtsbeleuchtung haben sie bis August, September, dann bauen sie sie ab, und vier Wochen später machen sie sie wieder neu. Die Familie macht wirklich viel zusammen und ist sehr nett.
Die beiden Erzählerinnen wohnen genau gegenüber, und als die Weltmeisterschaft war, haben sie ihre kroatische Fahne rausgehängt und die anderen die französische. Je nachdem, wie das Spiel gelaufen ist, haben sie sich gegenseitig Daumen hoch oder Daumen runter gezeigt.
Ich erzähle, dass der häufigste Kommentar zu dem Foto mit der Weihnachtsbeleuchtung war: „Ach das sind die Verrückten“ oder „Ach das sind die Spinner, die das ganze Jahr die Weihnachtsbeleuchtung anhaben“. Mutter und Tochter antworten wie aus einem Mund: „Nee, die sind gar nicht verrückt, die sind ganz nett.“

Danke an Michael Beetz von FORUM BEROLINUM LTD.



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