Josina von der Linden / Berlin

Flüchtige Begegnung / 2008

Am letzten Tag meines einwöchigen Aufenthaltes im Gropiushaus benutze ich, um die Wohnung im 12. Stock zu erreichen, statt des Fahrstuhls das etwas unwirtliche Treppenhaus.
Ungefähr auf der Höhe des 4. Stockwerks horche ich auf; ich vernehme Geräusche: da ist doch jemand!

Nie bin ich hier jemandem begegnet. Auch nicht während meiner 24 Stunden dauernden Aktion „Stadtbeobachtung“ zur Sommersonnenwende, bei der ich stündlich die Wohnung verlassen habe, um vom frei zugänglichen Außenbalkon immer mit derselben Perspektive die Gropiusstadt im Licht des längsten Tages und der kürzesten Nacht zu fotografieren.

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Ich laufe weiter und kann das Gehörte als heftiges Schluchzen deuten. Im 6. Stockwerk treffe ich einen Jugendlichen, der, auf der Treppe sitzend, seinen Emotionen freien Lauf lässt. Ich spreche ihn an, frage (etwas indiskret), ob alles in Ordnung wäre, oder ob er vielleicht Liebeskummer hätte. Er schreckt kurz hoch, gibt mir zu verstehen, Herr seiner Lage zu sein, erkundigt sich, ob ich vorbeigehen wolle und macht mir Platz. Auf dem Weg nach oben begleitet mich sein hemmungsloses Schluchzen und Schniefen.

In der Wohnung angelangt, lässt mir die Begebenheit keine Ruhe. Ich überlege, wie ich den jungen Mann auf andere Gedanken bringen könnte. Bonbons kommen in Anbetracht seiner offensichtlichen Gewichtsprobleme nicht in Frage. Viel sinnvoller erscheint es mir, ihm ein Mustermodell meiner „Schöne-Aussichten-Brille“ zu schenken: eine Pappbrille, die ich mit rosaroter Folie versehen habe.

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Sofort eile ich mit dem Trostspender zurück ins Treppenhaus. Im 6. Stock angekommen, sehe ich, dass ich zu spät bin. Einzig eine tränenreiche, rotzige Lache erinnert an den untröstlichen Jugendlichen.

Bevor ich in die Wohnung zurückgehe, ertappe ich mich dabei, einen vorsichtigen Blick vom Außenbalkon in die Tiefe zu werfen. Es ist niemand zu sehen.