Nadin Reschke / Berlin

/ 2008

Ich wache auf, weil der Nachbar über mir Gottesdienst im Fernsehen auf Läutstärke 20 sieht. Vielleicht ist er schwerhörig und liegt auch noch im Bett? Die Wände in so einer Plattenwohnung sind dünn. Es ist der letzte Sonntag in diesem Jahr! Ich beschließe, hier nicht als Fremde anzukommen, sondern mich heimisch zu fühlen, und lasse mir als erste Maßnahme ein heißes Bad ein.
Was will ich eigentlich hier?

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Ich bin vor kurzem zurück nach Berlin gezogen, nah an meine alte Heimat, den Brandenburgischen Feldern. Dort vor der Mauer bin ich groß geworden und habe immer von der Ostseite auf die Gropiusstadt geblickt. Als Kind hat das mein Bild von Westberlin stark geprägt, weil ich annahm, dass alles im Westen so aussieht, wie die "Platten", die hinter der Mauer herausragen. Nach der Wende sah ich, dass es anders ist. Jetzt, 19 Jahre später, sitze ich im Westen, im 12. Stock und drehe den Blick um. Ich übe eine Woche Perspektivwechsel, laufe durchs Rudower Wäldchen bis in die blanken Felder rein, weiter und weiter, bis ich die Krähen der Mülldeponie aufschrecken kann. Dann an einem Punkt drehe ich um und laufe zurück. Ab hier laufe ich wieder gen Westen, so wie früher, und sehe das gleiche Bild der sich auftürmenden Wohnblocks hinter endlos grauen Feldern. Nur die Mauer fehlt, und der Todesstreifen dazwischen ist jetzt Wanderweg und Hundeparadies. Mir wird schlecht, als eine Frau ihren Hund anschreit „Komm her!“, und es knallt, weil halbstarke Jungs schon mal ihre Silvesterbatterie ausprobieren. Ich laufe den asphaltierten Spazierweg, der als „Mauerweg“ deklariert ist, entlang und schleppe meine aufkommenden Erinnerungen mit mir mit. Ein Ehepaar grüßt mich lächelnd, alle anderen laufen oder joggen mit angespannter Miene an mir vorbei. Er sagt: “Man kann da bis rüber laufen“ und zeigt auf das Feld, hinter dessen Rand Großziethen liegt. Es gibt bestimmt etliche Leute hier, die das jedes Wochenende machen. Wenn ich damals in der Gegend wohnen geblieben wäre, gehörte ich vielleicht auch dazu.

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